Aktivismus gegen den Krieg: «Heute klettere ich nicht mehr auf Kathedralen»

Nr. 25 –

Vor mehr als fünfzig Jahren hissten Olivier Parriaux und seine zwei Waadtländer Genossen die Flagge des Vietcong auf der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Über Politik im Alter, die Zersplitterung der Linken und die Suche nach der verlorenen Hoffnung.

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Olivier Parriaux in seiner Wohnung in Lausanne
«Was mir heute Hoffnung macht, sind der Widerstand der ukrai­ni­schen Bevölkerung und der Feminismus»: Olivier Parriaux in seiner Wohnung in Lausanne.

Die Kriegsparteien sind in Paris eingetroffen, Journalist:innen aus aller Welt reisten ihnen nach. Es ist Ende Januar 1969, Samstagnacht, am Montag beginnen die Verhandlungen über ein Ende des Vietnamkriegs. Die letzten Vorbereitungssitzungen sind gerade zu Ende gegangen. Olivier Parriaux und Bernard Bachelard stehen auf dem Dach der Kathedrale Notre-Dame, unterhalb des Dachreiters. Es ist eisig, aber ihnen ist nicht kalt.

Schon seit 16 Uhr haben sie sich im südlichen Glockenturm versteckt. Jetzt beginnt Bernard Bachelard, Sportlehrer, den letzten Aufstieg, Parriaux sichert ihn mit einem Seil. Rund zehn Meter hoch steigt Bachelard bis zum Kreuz an der Spitze des Turms und befestigt dort die Flagge der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams (FNL).

Dort hinaufklettern konnten die beiden über verrostete Eisenstangen. Sie kennen diese aus den Bauplänen, die sie wochenlang in einer Lausanner Bibliothek studiert haben. Auf dem Weg zurück nach unten packt Olivier Parriaux sein Werkzeug aus und sägt eine Stange nach der anderen ab. Es führt jetzt kein Weg mehr hoch zum Dachreiter. Unten auf der Strasse wartet der dritte Genosse, Noé Graff, in seinem Döschwo von Citroën. Die drei fahren zu «Le Monde», werfen ein anonymes Bekennerschreiben in den Briefkasten und fahren direkt zurück nach Lausanne.

Am nächsten Morgen, als Paris erwacht, weht die südvietnamesische Fahne unerreichbar über dem Wahrzeichen der Stadt. Die Feuerwehr versucht stundenlang, sie wieder zu entfernen. Schliesslich muss sie in einer halsbrecherischen Aktion vor den Augen der Welt einen Feuerwehrmann aus einem Helikopter abseilen lassen. Die Fotos davon gelangen auf die Titelseite der «New York Times», die wichtigsten Medien der Welt berichten, auch in der «Tagesschau» ist die Flagge Thema. Ein Einsatzleiter erklärt der Presse, dass es sich bei den Tätern um Profis gehandelt haben müsse. Und Olivier Parriaux kann sich bis heute ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen, wenn er von damals erzählt.

WOZ: Olivier Parriaux, was haben Sie gedacht, als Sie wieder in Lausanne waren?

Olivier Parriaux: Wir waren stolz und glücklich. Nicht viel mehr. Letztlich hing der ganze Erfolg nur von einer einzigen Sache ab: von der Säge. Das war entscheidend dafür, dass die Flagge ein paar Stunden hängen konnte. Die Aktion sprach für sich selbst.

WOZ: Was machte sie so erfolgreich?

Olivier Parriaux: Sie folgte den Regeln einer klassischen Tragödie nach Nicolas Boileau, dem französischen Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert: Für eine gute Tragödie braucht es die Einheit von Ort, Zeit und Aktion, und das ist uns gelungen. Wir brauchten für die Aktion dreissig Stunden – dreissig Stunden in einem dreissigjährigen Krieg.

Die Aktion sorgte für viele Diskussionen und Mutmassungen. War es etwa der Vietcong selbst? Als die Verhandlungen vier Jahre später abgeschlossen waren, bedankte sich die Leiterin der südvietnamesischen Verhandlungsdelegation bei allen, «die die Flagge der FNL hochgehalten haben». Wer tatsächlich dahintersteckte, wusste bis vor kurzem niemand. Olivier Parriaux wurde nie erwischt. Erst neulich bekannten sich er und seine zwei Freunde in einem Buch öffentlich dazu. Es erschien auf Französisch, Deutsch und – in einer kürzeren, zensurkonformen Fassung – auf Vietnamesisch.

Parriaux, Jahrgang 1943, steht in seiner verwinkelten Wohnung in der Altstadt, gleich neben der Lausanner Kathedrale. Die Räume sind dunkel, der alte Holztisch ist schon gedeckt. Er hat Pilaw gekocht. Die Gläser auf dem Tisch stammten aus der Glasmalerei des russischen Zaren, sagt er, «der Chasselas ist vom Weingut von Noé Graff, unserem Fahrer von damals». Es ist Mittag, und Parriaux hat viel zu erzählen.

Die Zeit der direkten Aktionen sei für ihn nach diesem Höhepunkt vorbei gewesen. «Die Aktion auf der Notre-Dame markierte für uns eine Wende», sagt er. «Wir waren 25, es war das Jahr des Prager Frühlings, die Vision eines neuen Sozialismus hat uns überzeugt.» Gemeinsam mit Graff und Bachelard trat er der Revolutionären Marxistischen Liga (RML) bei, einer trotzkistischen Abspaltung der Partei der Arbeit. «Das war die logische Weiterentwicklung unserer Arbeit», sagt Parriaux.

WOZ: Und heute? Sind Sie immer noch ein revolutionärer Marxist?

Olivier Parriaux: Die Welt ist so komplex geworden, dass ich mir keine kreative Gestaltung der Zukunft mehr zutraue. Ich fühle mich nicht zu konstruktivem Handeln fähig. Deshalb bin ich in meinem Engagement heute eher defensiv.

WOZ: Defensiv inwiefern?

Olivier Parriaux: Gegen das Kapital, gegen die Kapitalisten, die das Klima zerstören und damit nicht aufhören, obwohl sie es besser wissen. Darauf beschränkt sich derzeit meine Handlungsfähigkeit: Ich bin gegen die Zerstörung. Und mache den Kapitalismus dafür verantwortlich.

Aus der RML trat Olivier Parriaux 1975 wieder aus. Er widmete sich vermehrt der Physik, verliess das Land. Spezialisiert war der Lehrersohn auf Glasfasern und Mikrowellen. «Das war der Beginn eines neuen Zeitalters in diesem Forschungsgebiet», sagt er. Parriaux lehrte als Professor in Moskau, Jena, London und Saint-Étienne. Eine Familie gegründet hat er nie, erst nach seiner Pensionierung widmete er sich wieder stärker der Politik. Das ist über zehn Jahre her. «Ich habe mich entschlossen, die Wissenschaft aufzugeben und mich wieder meinen alten und neuen Genoss:innen an den Fronten des sozialen Kampfs anzuschliessen», sagt Parriaux. Auch mit Graff und Bachelard arbeitet er seither wieder zusammen.

Drei wichtige Engagements verfolge er heute noch, sagt er. «Als solidarischer Mann unterstütze ich den feministischen Kampf.» Natürlich nicht als Anführer, merkt er an, sondern dort, wo es ihn gerade brauche, er helfe etwa jeweils beim Aufbau von Infrastruktur mit, falls erwünscht. Parriaux ist ausserdem Teil der Ukrainehilfe im Kanton Waadt, ganz in der alten antiimperialistischen Tradition, unter veränderten Vorzeichen. Und schliesslich ist er Klimaaktivist, bei den Grosseltern fürs Klima, «einer altersgerechten Organisation», sagt er. «Ich klettere also nicht mehr auf Kathedralen, das ist Basisarbeit.»

WOZ: Was würden Sie sich von den jüngeren Generationen der radikalen Linken wünschen?

Olivier Parriaux: Ich stelle eine grosse Fragmentierung fest. Klar, früher gab es diejenigen, die in der Partei der Arbeit waren, die Maoisten und dann noch die Trotzkisten. Heute ist es komplexer. Ich selbst höre sehr gern jüngeren Leuten zu, zum Beispiel Naomi Klein. Leuten, die uns die notwendigen Werkzeuge liefern, um die verschiedenen Strömungen wieder in einem antikapitalistischen Kampf zu vereinen.

WOZ: War es schwierig für Sie, sich nach Jahrzehnten der Nato-Kritik politisch zu positionieren, als die russische Vollinvasion in die Ukraine begann?

Olivier Parriaux: Eigentlich nicht. Klar, ich war immer gegen die Nato, aber auch immer gegen den Stalinismus. Und natürlich bekämpfe ich sowohl Wladimir Putins Kapitalismus als auch seinen Imperialismus.

WOZ: Gehen Sie auch gegen die Kriegsverbrechen Israels auf die Strasse?

Olivier Parriaux: Anfangs ja, mittlerweile bin ich etwas zurückhaltender. Auf jeden Fall verurteile ich die rassistische, rechtsextreme Politik Israels. Ich stehe auf der Seite der palästinensischen Bevölkerung und der kleinen verbliebenen israelischen Linken. Was Israel in Gaza anrichtet, hat ein Ausmass angenommen, das kaum auszuhalten ist. Meine Zurückhaltung bei der Mobilisierung … Sagen wir: Auf den Demos ist mir immer wieder ein Antizionismus begegnet, der mit dem Antisemitismus flirtet, wohl auch, weil es teils an historischer Kenntnis mangelt. Das ist meine persönliche Wahrnehmung.

Lässt sich heute von den Achtundsechzigern noch etwas lernen? Die verbliebenen Vertreter:innen der Generation werden immer älter. Die Revolution, von der Parriaux, Bachelard und Graff einst träumten, blieb aus. Der Glaube daran, dass sie möglich sein könnte, hat sich Biografien wie seiner trotzdem eingeschrieben. Und bis heute lassen die einstigen Verbrechen in Vietnam Olivier Parriaux nicht los.

Die Rente, die er erhält, sei gut genug, dass er einen Teil davon abtreten könne. Seit Jahren beteiligt er sich finanziell am Kampf der französisch-vietnamesischen Journalistin Trân Tô’Nga. Sie hat in Frankreich die Chemiekonzerne angeklagt, die an der Produktion von Agent Orange beteiligt waren. Millionen Leben hat der Einsatz der Chemikalie in Vietnam gekostet, bis heute ist sie für Mutationen bei Neugeborenen verantwortlich.

Trân Tô’Nga hat ein Grusswort zum Buch von Parriaux, Graff und Bachelard beigetragen. Im letzten November reisten Parriaux und Bachelard auf Einladung der Regierung erstmals nach Vietnam. Die Geschichte von der Notre-Dame stiess auch dort auf grosses Interesse. Die Regierung wollte sich bei den drei Männern bedanken. Parriaux: «Vermutlich stellvertretend für die Millionen, die sich damals mit der vietnamesischen Bevölkerung solidarisiert haben.»

WOZ: Gibt es etwas, was Ihnen heute noch Hoffnung macht?

Olivier Parriaux: Einerseits der aussergewöhnliche Widerstand der ukrainischen Bevölkerung. In diesem Widerstand gibt es Poesie, Literatur, ein Bewusstsein, das trotz aller Leiden Hoffnung zu stiften vermag.

WOZ: Und andererseits?

Olivier Parriaux: Der Feminismus. Wir leben in einer zersplitterten Welt, das Proletariat, das wir einst zu mobilisieren versuchten, lebt heute in Bangladesch. Wenn ich mich jetzt frage, welche soziale Kraft es geben könnte, die weltweit, wenn auch in unterschiedlichem Mass, ausgebeutet und unterdrückt wird und nach einer anderen Gesellschaft strebt … Im Feminismus liegt Hoffnung auf Veränderung. Da bin ich mir sicher.

Bernard Bachelard, Noé Graff, Olivier Parriaux: «Vietcong in Paris. Über eine spektakuläre Antikriegsaktion dreier Internationalisten aus der Schweiz». Deutscher Militärverlag. Berlin 2025. 112 Seiten.